Über das Leiser-Werden der Lebensmelodie
- Peter Hartwich
- Feb 14
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Updated: Feb 21
Autor: Prof. Dr. med. Peter Hartwich
Ich möchte über die Veränderungen des Lebens bei betagten Menschen schreiben. Es geht um diejenigen, die jenseits der 80iger, 85iger oder 90iger Jahre alt sind, deren Lebensmelodie relativ rasch oder nach einer unbestimmten Frist erlöschen wird. Allerdings gibt es auch eine Reihe von Mitmenschen, bei denen das Altwerden durch Krankheiten, insbesondere Krebserkrankungen jeglicher Art, schon viel früher einsetzt, bestimmt durch zunehmende Erschöpfbarkeit und die schwindenden Kräfte.
Bei ihnen ist es weniger langsam und kontinuierlich, sondern eher ein Abrutschen auf ein tieferes Niveau, gleich dem Heruntersteigen auf einer Treppenstufe, manchmal auch mehrerer Stufen gleichzeitig.
Es erweist sich dabei als nützlich, die beiden Bereiche zunächst getrennt zu betrachten: Zum einen die soziale Isolation oder treffender formuliert, das Abblassen und Erkalten der menschlichen Beziehungen, und zum anderen den körperlichen Verfall und der damit meistens zusammenhängenden krankhaften Veränderungen des gebrechlichen Alters. Beide Aspekte sind sicherlich miteinander verwoben und stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit.
Der leise Abschied von Kollegen, Bekannten, Freunden und schließlich auch Verwandten gleitet ganz allmählich und fast kaum merklich in die Isolation hinein. Selbst die eigene Familie, Söhne und Töchter nebst Enkelkindern merken gar nicht, wie die schwindende Eigenaktivität der Betagten die engen Kontakte allmählich ausdünnt.
Die frühere Vitalität, die auch wesentlich zur Kontaktpflege beigetragen hat, ist nicht mehr selbstverständlich und die Betriebsamkeit des Alltags der Jüngeren kaschiert oft unbemerkt das Fehlende. Festivitäten, wie z.B. Geburtstage, verdeutlichen die nur noch punktuellen Verankerungen von Kontakten. Somit bekommt das Selbstbild Sprünge. Besonders hart ist die Erkenntnis, es gibt keine Umkehr mehr, es geschieht das Endgültige.
Für die Hochbetagten sterben die Gleichaltrigen weg und damit ihre Ära des öffentlichen und internen Lebens. Die eigene Epoche gibt es nicht mehr, sie wird nicht mehr gelebt.
Die subjektive Seite des Geschehens
Die eigene Sicht auf die Erfahrung des Altwerdens beginnt mit dem Tag, an dem ich erkenne, dass das Altern nicht nur bei anderen zu beobachten ist, sondern eine unausweichliche Wahrheit wird, die auch mich erfasst. Dann bin ich nicht mehr nur Beobachter, sondern werde Mitreisender und sehe im Spiegel meine eigene Vergänglichkeit, die sich zunächst in meinem 85jährigen gealterten Gesicht bemerkbar macht.
Der Grenzstein des Lebens, der noch vor kurzem weit am Horizont stand, ist deutlich näher gerückt. In der Jugend war er in unendlicher Ferne und überhaupt noch nicht sichtbar. Ich lerne allmählich die lauernde Angst kennen, sich selbst zu verlieren.
Das ereignete sich bei mir zuerst im Traum, dann in Wiederholungsträumen, die teils kafkaeske Züge annahmen. Im Wachzustand tauchten solche Vorboten des Entgleitens noch nicht bewusst auf.
Auf einer Wanderung, zunächst mit einem klaren Ziel vor Augen, stehe ich an der Schranke von Bahngleisen. Es ist hell, grüne Büsche und Bäume sind um mich herum. Ich gehe auf die andere Seite der Gleise und dann einen Weg entlang, der in eine Hügellandschaft führt. Es wird Abendstimmung, die Umgebung jetzt in orange-braune Farbe der untergehenden Sonne getaucht. Der Weg wird immer länger. Schaffe ich es bis zur Dunkelheit? Wo es lang gehen soll, wird unbestimmt, Ziel und Richtung entgleiten. Ein mühsames Weitergehen ohne konkrete Vorstellung des „Wohin“ macht unsicher und verstärkt den zeitlich-räumlichen Orientierungsverlust. Das Grundgefühl der Verlorenheit steigert sich. Welchen Weg ich auch immer einschlage, rechts oder links, er wird immer länger und gleitet immer weiter ab von etwas konkret Erreichbarem.
Die klare räumlich-zeitliche Struktur der Ich-Umwelt Erfahrung, die in jüngeren Jahren fraglos selbstverständlich war, beginnt zu zerfallen und im Hintergrund kündigt sich das Gefühl der Panik an.
Um der lauernden Angst vor der zunehmenden Fragilität im Untergrund zu entgehen, werden von betroffenen alten Menschen neue Verhaltensmechanismen entwickelt.
Somit sind viele der skurrilen Eigenarten Alternder als Schutzmaßnahmen zu verstehen. Sie versuchen, ihr als Einheit erlebtes Ich-Selbst auf irgendeine Weise zusammenzuhalten. Sie müssen etwas tun, um gegen die Panik des Sich-Selbst-Entgleitens anzugehen. Es kommt zum starren Einhalten von Routine und regelmäßigen Tagesabläufen, die zu Automatismen werden können.
So muss alles seinen gewohnten Gang gehen. Abweichungen werden als Irritationen erlebt, die von Panik begleitet sein können. Die Empfindlichkeit steigert sich allmählich und kann bei manchen bis dahin ausgeglichenen Menschen bis ins Pathologische gehen.
Es gibt eine schleichend quälende Erfahrung des Vergessens. Bezeichnungen von Gegenständen sind zunächst vereinzelt nicht im gängigen Wortschatz verfügbar. Der Name einer Stadt, von der man gerade erzählt, ist nur mühsam und mit zeitlicher Verzögerung aus dem Gedächtnis abrufbar. Zunächst tröstet man sich damit, dass man das ja früher auch schon gehabt habe. Wenn es aber häufiger wird, stört es zunehmend.
Manche Betagten greifen zu Hilfsmitteln, die in der heutigen Zeit zur Verfügung stehen.
Ich habe bei einem solchen „Aussetzer“ rasch in meinem Handy das ChatGPT nach größeren Städten in Süddeutschland gefragt, die Transkription war gut und ich habe den kleinen Pfeil angeklickt und schon wurden mir Namen von Städten in Baden-Württemberg und Bayern angeboten. Was ich suchte, war dabei!
Es ist schon eindrucksvoll, wie viele technischen Hilfsmittel in neuerer Zeit angeboten und zu Routineoperationen werden. Mit künstlichen Linsen wird der graue Star (Katarakt) behoben, mit Hörgeräten wird nicht nur das Hören verbessert, sondern die Übertragung von Telefongesprächen wird per Bluetooth direkt ins Ohr vermittelt. Auch die Übertragung des Fernsehtons erfolgt auf diese Weise und der Rest der Familie kann bei der gewohnte Tonübertragungslautstärke bleiben. Neue künstliche Hüften und Kniegelenke sollen die Schmerzen und Gehbeeinträchtigungen lindern. Die umfangreichen Entwicklungen der Stents an den Herzgefäßen oder gar in den Augen seien als Beispiele hier nur angedeutet.
Zukünftige Technologie
In neuerer Zeit werden auf dem Gebiet der Computertechnik in Verbindung mit dem Gehirn (Neuroinformatik) Schnittstellen (BCI = Brain-Computer-Interface) entwickelt, die beachtliche Kompensationen der körperlichen Beeinträchtigungen leisten können. Für die Verwendung in der Routine für jedermann sind wir erst am Anfang. Zukünftig sind für eine zunehmende Anzahl von betroffenen Menschen motorischen Prothesen zu erwarten, bei denen durch Schlaganfall gelähmte Gliedmaßen mithilfe von BCI bewegt werden können.
Auch werden Gedanken ein Cursor auf dem Computerbildschirm bewegen, um alte Menschen mit schweren Sprechstörungen wieder kommunikationsfähig zu machen. Zusätzlich kann die neuronale Plastizität mittels BCI gefördert werden, indem das Gehirn trainiert und gar neue neuronale Verbindungen entstehen können.
Das Potential der BCI-Technik wird in Zukunft sehr umfangreich werden und in fast alle Lebensbereiche einwirken. So können Gedächtnisausfälle nicht nur kompensiert, sondern durch direkten Zugriff auf große Datenbanken wird es möglich werden, das Gedächtnis erheblich zu erweitern. Bei Beeinträchtigung der Sprache im Alter (Aphasie) mit den schon geschilderten Wortfindungsstörungen könnten in Zukunft direkte Gedanken und Emotionen ausgetauscht werden, ohne dass die Person die Sprache benutzen muss.
Zur Unterhaltung und Ablösung des Fernsehens werden den Betagten virtuelle Welten angeboten, in die sie eintauchen können, um der Einsamkeit zu entrinnen. BCIs werden weitere Abbauprozesse des Gehirns ausgleichen, insbesondere bei Schlaganfallfolgen, einigen Demenzformen oder Morbus Parkinson.
Insgesamt liegt in diesen Technologien der Zukunft ein weites Feld von Möglichkeiten für immer mehr Menschen. Allerdings sollte heute schon kritisch die Frage gestellt werden, wie weit möchte sich der in seinen Fähigkeiten immer mehr eingeschränkte Betagte überhaupt dieser angebotenen technischen Werkzeuge bedienen. Wenn es um Verminderung von Schmerzen geht, sicherlich. Aber darüber hinaus ist die Würde des gealterten Menschen zu respektieren und der einzelne sollte, soweit er es noch kann, selbst entscheiden, ob er die technologischen Erweiterungen seines Ich-Selbst nutzen will.
Zurück zur Gegenwart
Die eingangs beispielhaft genannten Beeinträchtigungen führen dazu, dass sich der alternde Mensch aus seiner gewohnten Gemeinschaft mehr und mehr zurückzieht.
So betrachten wir mal die Zusammenkunft mit Bekannten und Freunden in einem Lokal. Mit zunehmender Bierlaune steigt der Geräuschpegel. Der alte Mensch kann, auch wenn er mit einem guten Hörgerät ausgestattet ist, die Begleit- und Nebengeräusche nicht mehr ausblenden, somit wird es immer lauter um ihn herum. Den Erzählungen der anderen, die sich stimmlich übertönen, kann er nicht mehr folgen. Er müht sich ab, es wird anstrengend, so bleibt ihm nur, Verstehen vorgebend, zu nicken und zu lächeln. Er schätzt es, in der Gemeinschaft dabei sein zu können, auch wenn er nur das wahrnimmt, was er schon kennt, zumal die meisten Anekdoten ohnehin immer wieder neu aufgelegt werden.
Viele Betagte haben Schwierigkeiten beim Sehen. Entweder ist das Gesichtsfeld eingeschränkt oder eine Linsentrübung beeinträchtigt die Wahrnehmung im abgedunkelten Raum des Lokals. Somit werden Freunde nicht gleich identifiziert, die sich dann wundern. Oder es wird mit einer unbeabsichtigten Armbewegung das Bierglas des Tischnachbarn umgestoßen, was auch wiederum peinlich ist. Auf Dauer resigniert der alternde Mensch und zieht sich mehr und mehr zurück. Dann wird es einsam um ihn. Das Leben der andern geht weiter seinen gewohnten Gang, aber er ist nicht mehr dabei.
Der leise Abschied aus der Gemeinschaft schafft Isolation, da Beziehungen immer weniger gepflegt werden können. Freundschaften verblassen und die zwischenmenschlichen Verbindungen des Hochbetagten kühlen, zusammen mit seinen zunehmenden Einschränkungen, aus.
Der Umgang der Mitmenschen mit dem Verhalten der Schwachen im Alter unterliegt einer ständigen Wechselbeziehung. Hat die betagte Person etwas Wichtiges vergessen oder nicht mitbekommen, ist man weniger freundlich, spricht lauter und vorwurfsvoll. Oder man spricht gar mit ihm, wie mit einem Kind. Beides trifft den Alten hart. Entweder reagiert er ärgerlich oder er zieht sich resignierend weiter zurück. Die Mitmenschen lassen ihn das dann fühlen, manchmal auch nur unbewusst, was trotzdem wehtut und die Isolation verstärkt.
So gibt es zahllose Beispiele der gegenseitigen Missinterpretationen, was Beziehungen weiter abkühlt und das Gefühl der Einsamkeit fördert, was insbesondere im Zusammenleben mit Jüngeren zu beobachten ist. Gelegentlich werden Alte wie unmündige Kinder oder wie Gegenstände behandelt, die man herumschubsen kann. Man wird brutal in die Lage eines abhängigen Objektes erniedrigt und ist der Willkür anderer ausgesetzt. Manche schaffen es allerdings, solchen Situationen mit einem gewissen Humor zu begegnen, was die Anspannung auf beiden Seiten lösen kann.
Es gilt eine fundamentale Erkenntnis, die lautet, die jüngeren Menschen können nun mal nicht in der Lage sein, alte Menschen zu verstehen. Die Erfahrungen des Alters haben nun mal nur die Alten, die Jungen nicht. Deshalb ist es auch unmöglich, sich als junger Mensch in die Erlebnisweise des Alternden gänzlich hineinzuversetzen. Auch wenn sich noch so viel Mühe gegeben wird, es bleibt naturgemäß begrenzt.
Dazu gehört auch die Erfahrung, man braucht keine Erfolge mehr. Ruhe ist das Privileg des Alten, er hat beruflich nichts mehr zu gewinnen und nichts zu verlieren. Die Umwelt und das, was mal begeistert hat, wir glanzlos, so ganz ohne Frische und Lebendigkeit. Im Alter erlahmt die Wissbegierde, keine Neugierde mehr, die Begeisterungsfähigkeit wird flacher, Gleichgültigkeit zieht ein. Auch die rasche Erschöpfbarkeit und die längeren Erholungspausen bestimmen den Alltag.
Die Menschen der Umgebung
Nun gilt es die Mitmenschen der unmittelbaren Umgebung anzuschauen, wie gehen sie mit dem oder der Betagten um? Hier sind soziale, kulturelle und individuelle Faktoren maßgeblich.
In einer positiven Einstellung kann das Verhalten der beeinträchtigten Alten bei seinen Mitmenschen eine Art Überfürsorglichkeit hervorrufen. Hier ist die Wechselwirkung zu beachten. Von den umgebenden Menschen ist dabei zwar Hilfe und Respekt gemeint, wird aber unterschiedlich angenommen. Manche Betagten nehmen die Hilfsbereitschaft gerne an und sind dankbar dafür, auch wenn sie sie manchmal nicht unbedingt brauchen. Andere fühlen sich entmündigt, zu sehr auf ihre Defizite reduziert und werden ärgerlich.
Die nahen Angehörigen sollten gut ausbalancieren, wieviel und wie wenig Unterstützung angemessen ist, damit ihr Verhalten nicht zusätzlich zur Verminderung der Selbständigkeit führt.
Bedeutsam ist auch die Reaktion der Angehörigen auf die Langsamkeit der Mobilität des Alten. In der heutigen hektischen Zeit ist es für die Jüngeren eine Herausforderung, damit so umzugehen, dass ihre Ungeduld nicht bemerkt wird. Ins Auto ein- oder aussteigen, durch eine Tür gehen, die aus äußeren Gründen rasch geschlossen werden sollte, das Laufen auf der Straße, das umständliche Bezahlen an der Kasse im Supermarkt sind weitere Beispiele.
Die bedächtige Verlangsamung der Alten passt nicht in das dynamische Tempo unserer beschleunigten Gegenwart, die von den Jüngeren bestimmt wird. Somit kommt es bewusst oder unbewusst zu einem unruhigen Drängeln zur Eile, was wiederum zu Spannungen führt. Die Mitmenschen fühlen sich übermäßig belastet und behandeln dann manchmal die Alten wie Kinder und nehmen ihnen noch mehr ihre Autonomie.
In manchen Fällen gehen Ignoranz und Ausgrenzung so weit, dass der Alte überhaupt nicht mehr in Entscheidungen eingebunden wird. Die Spannungen werden größer und führen nach kurzem Aufbäumen zu Resignation und weiterem Rückzug in die Einsamkeit.
In manchen Kulturen soll es anders sein, den alten Menschen werde mehr Respekt und Achtung entgegengebracht; man begegne ihnen insgesamt mit mehr Wertschätzung. So habe ich in Thailand erlebt, wie es immer noch die Sitte gibt, dass eine der Töchter nicht heiratet und stattdessen die alten Eltern zu Hause bis zum Tode versorgt.
Auch die frühere Lebensleistungen und Position in der Gesellschaft findet mehr Beachtung. Man lässt den Alten die Würde. Eine solche Haltung scheint in westlichen stark industrialisierten Kulturen eher rückläufig zu sein, indem die Betagten als Belastung empfunden werden. Steigende Kosten für Renten, Pflege und medizinische Versorgung werden rein wirtschaftlich betrachtet. Hinter vorgehaltener Hand hört man manchmal die scherzhaft-bösartige Äußerung „man müsse die Alten entsorgen“. Dabei blenden die jungen Menschen völlig aus, dass Altwerden unweigerlich auch zu ihrem eigenem Leben gehört.
Das Zeiterleben bei jungen und alten Menschen
Die oben geschilderte Bedächtigkeit des betagten Menschen und der Reaktion der Umwelt darauf führt uns zur genaueren Betrachtung des unterschiedlichen Zeiterlebens von Jung und Alt, was in der täglichen Kommunikation eine zentrale Bedeutung erfährt.
Bei Kindern und noch in der Jugend wird ein ganzes Jahr als sehr lang empfunden. Ihr Erleben ist eher präsentisch, später in der Jugend bestimmt das Gefühl der Unendlichkeit die Zeitwahrnehmung. Im Erwachsenenalter wird Zeitdruck und Zeitmangel zum vorherrschenden Erleben, trotzdem scheint die eigene Lebenszeit kaum als begrenzt wahrgenommen zu werden. Mit zunehmenden Alter vergeht dem Menschen die Zeit immer schneller, damit geht das Wissen um die Endlichkeit und die Kostbarkeit der Zeit einher.
Im Umgang der Jüngeren mit den Alten ist die Unterschiedlichkeit des Zeiterlebens ein fundamentaler und oftmals nicht bedachter Faktor, der zu Konflikten führt. Mit der hektischen Dynamik der Gegenwart passt die Entschleunigung der Alten nicht zusammen. Ihre vielen körperlichen Abbauprozesse zwingen sie zu bedächtigen Bewegungen im Gehen oder beim Essen während die Menschen im Umfeld demgegenüber ein viel höheres Tempo haben.
Der gesamte Tagesablauf ist für den Betagten zwangsläufig ruhiger und entpflichtet, wohingegen besonders bei professionell Pflegenden die Zeit drängt und die Pflichten rufen, weitere Betagte im Altersheim zu versorgen. Das fängt morgens beim Waschen, Anziehen und Bettenmachen an, geht dann über die Mahlzeiten und diverse Beschäftigungen über den Tag bis zum Abend, wieder mit Entkleiden und ins Bett bringen. Geht das über längere Zeit, gar Jahre, wird das unterschiedliche Zeiterleben zu einem schier unlösbaren Paradox, das die Pflegenden, ob zu Hause oder im Heim, in ihrer aufopfernden Tätigkeit psychisch belastet und auf die Dauer aushöhlen kann.
Natürlich bemerken die Alten das ebenso, sie fühlen sich leicht gekränkt, manche versuchen sich dem Tempo anzupassen, was nur bedingt geht, andere werden störrisch und behindern den Ablauf aktiv. Letzteres kostet dann noch mehr Zeit und wird zu einer Spirale des Unmuts.
Bei zunehmendem Altersabbau wird das Zeitempfinden des Betagten so gestört, dass die innere Zeit mit der äußeren Zeit dissoziiert, das heißt, nicht mehr in Einklang zu bringen ist; das Wissen von Vergangenheit und Zukunft schwindet, die zeitlichen Struktur zerfällt und geht über in die Zeitlosigkeit.
Bei manchen Betroffenen führt eine Krankheit wie Schlaganfall, Herzinfarkt oder Lungenentzündung zu einem raschen Ende.
Bei den meisten Menschen ist die letzte Etappe eher von Annahme ihres Schicksals und einer gewissen hinnehmenden Ruhe geprägt. Ich habe auch erlebt, dass Betagte in diesem Stadium aus ihrer Religiosität und Spiritualität zusätzlich Halt schöpfen konnten. Der Umgang der betagten Menschen mit dem nahen Ende hat so unterschiedliche Facetten, wie ihre Charaktere und die Geschichten, die ihr Leben geformt haben. Letztlich schwinden die Kräfte immer mehr, die verminderte Vitalität wird zunehmend fragil, gelegentlich führt das auch zu einem geistigen Entgleiten. Es kommt zu einem Dahinwelken und langsamen Erlöschen der Lebensmelodie, die im Universum verklingen mag.
Wie kann man sich auf das Entgleiten der Struktur des Ich-Selbst und den Zerfall des eigenen Körpers vorbereiten? Hier geht es wohl nicht anders, als dass jeder einzelne seinen eigenen Weg finden muss. Meine persönlicher Annäherung sind innerliche Einstimmung mit einer intensiven Vorstellung der Vorwegnahme des Zerfallsgeschehens, in einer meditativen Haltung übend. Falls ich gefragt werde, wie ich dieses Vorgehen umsetze, dann muss ich gestehen, dass es dafür in unseren Sprachen keine passenden Wörter gibt, da es kein bewusster gedanklicher Vorgang ist.
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